P. Huber u.a. (Hrsg.): La International comunista y America Latina

Cover
Titel
La International comunista y America Latina, 1919-1943. Diccionario biográfico


Autor(en)
Huber, Peter; Jeifets, Lazar; Jeifets, Victor
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 37,38
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scheuzger, Institut für Geschichte, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich

Die Dritte Internationale (1919–1943) war internationaler als ihre beiden Vorgängerinnen. Zum Sturz des Kapitalismus und zur Errichtung der Diktatur des Proletariats, die sich die Organisation in die Statuten geschrieben hatte, sollte die Arbeiterbewegung auf das revolutionäre Potenzial der unterdrückten Nationen weltweit bauen. Das Interesse der Kommunistischen Internationale an Lateinamerika begann dabei, nach Jahren der relativen Vernachlässigung, erst um 1928 zu wachsen. Dies war zum einen eine Folge des Fiaskos der Komintern-Politik in China. Zum anderen gründete es auf einer gewandelten Einschätzung der Rolle der USA im internationalen Kapitalismus. Die Randlage im politischen Gesichtsfeld der weltrevolutionären Organisation verließ der Subkontinent gleichwohl nicht. Disproportional größer als diese begrenzte Aufmerksamkeit war indessen der Einfluss, den die Internationale auf die sozialistische Linke in zahlreichen Ländern der Region hatte. Insbesondere auf ideologischem Gebiet verlieh die in der Komintern zunehmend auf eine stalinistische Dogmatik eng geführte Variante des Marxismus dem gesellschaftsanalytischen Raster und der Programmatik zahlreicher lateinamerikanischer kommunistischer Parteien eine Prägung, die lange über die Auflösung der Komintern (1943) hinaus nachweisbar blieb.

Die über Jahrzehnte die historiografische Behandlung der Beziehungen der Komintern zu Lateinamerika dominierende, maßgeblich politisch motivierte binäre Logik, welche die verschiedenen lateinamerikanischen sozialistischen Linken entweder als von außen implantiertes oder als genuin den autochthonen sozialen Bedingungen erwachsenes Phänomen darstellte, ist seit einiger Zeit überwunden. Heute kann sich die Forschung unbefangener mit Transfers und Rezeptionen beschäftigen, die von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung für die Geschichte der sozialistischen und insbesondere der kommunistischen Bewegungen in Lateinamerika waren. Das Unterfangen, der Forschung über den lateinamerikanischen Kommunismus ein umfassendes Kompendium biografischer Informationen über die Akteure in diesen Prozessen zur Verfügung zu stellen, ist daher zweifellos zu begrüßen.

Das von den beiden russischen Historikern Lazar S. Jeifets und Victor L. Jeifets zusammen mit dem in Basel lehrenden Historiker Peter Huber in spanischer Sprache vorgelegte biografische Handbuch 1 ermöglicht erstmals einen systematischen Zugriff auf Informationen über die personellen Beziehungen zwischen dem lateinamerikanischen und dem internationalen Kommunismus für die knapp zweieinhalb Jahrzehnte zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zweiten Weltkrieg – also für die Zeit, in der die Kommunisten neben den Populisten die politische Linke in Lateinamerika dominierten. Das über 900 Einträge enthaltende Nachschlagewerk bietet dabei insgesamt eine klare Erweiterung des Kenntnisstandes über die biografischen Verflechtungen des organisatorischen Zentrums und der lateinamerikanischen Peripherie der kommunistischen Weltbewegung. Auf der Grundlage einer mit der Öffnung der Archive der ehemaligen Sowjetunion ab 1992 erheblich erweiterten Datenbasis über die Mitglieder der Organisation und deren fellow travellers beschränkt sich die Darstellung nicht nur auf hohe Funktionäre lateinamerikanischer kommunistischer Parteien oder Gewerkschaften, auf Abgesandte der Komintern in Lateinamerika oder führende Angehörige der mit dem Subkontinent befassten Organe der Internationale. Das Handbuch erfasst ebenso Kontakte von Kadern unterer Hierarchieebenen oder beispielsweise auch lateinamerikanische Mitgliedschaften in den Kommunistischen Parteien der Sowjetunion, der USA und Europas. Diese umfängliche Inventarisierung des Personals, über das die direkten Beziehungen zwischen den kommunistischen Bewegungen Lateinamerikas und der Komintern abliefen, ist dem Handbuch als nicht geringes Verdienst anzurechnen.

Darüber, ob es angebracht gewesen wäre, einem solchen Nachschlagewerk eine kurze Übersicht über die Geschichte der Komintern in Lateinamerika voranzustellen, mögen die Meinungen getrost auseinander gehen. Sollte es die Absicht der Autoren gewesen sein, sich mit ihrer Publikation nicht nur an den doch relativ engen Kreis von Spezialisten zu wenden, kann dem Buch ein allgemeiner Mangel an Kontextualisierung allerdings kaum abgesprochen werden. Die einzelnen Artikel präsentieren keine Lebensläufe, sondern beschränken sich auf die Auflistung biografischer Daten der erfassten Männer und Frauen, wobei das Hauptanliegen der Bestandsaufnahme von Funktionen, Kongressteilnahmen, Anwesenheit in der Sowjetunion beziehungsweise in Lateinamerika und nachweisbaren persönlichen Kontakten gilt. Die Angaben werden nicht gewichtet, wenig Relevantes steht neben Bedeutsamem. Historische Porträts können auf diese Weise nicht entstehen. Dies mag auch nicht die Intention der Autoren gewesen sein – und wäre bestimmt auch nicht für alle Erfassten zu leisten gewesen. Allerdings wäre für ein nicht auf das Thema spezialisiertes Publikum eine die Texte strukturierende minimale interpretierende Anstrengung unerlässlich gewesen, welche die Bedeutung der einzelnen Akteure für die kommunistische Bewegung in Lateinamerika kenntlich gemacht hätte. Wer ohne ein solides Vorwissen über die Geschichte der lateinamerikanischen Linken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Buch konsultiert, wird in vielen Fällen kaum in der Lage sein, diese Bedeutung zu erschließen. Dazu fehlen in den Artikeln vielfach auch bereits elementare inhaltliche Informationen. So lassen – um nur zwei sehr prominente Beispiele zu nennen – die Angaben in den entsprechenden Einträgen weder die Einordnung eines Theoretikers von der Statur José Carlos Mariáteguis im sich entwickelnden marxistischen Denken in Lateinamerika zu noch die Einschätzung der Positionen des Komintern-Spitzenfunktionärs Jules Humbert-Droz in den theoretischen und strategischen Diskussionen der Internationale Ende der zwanziger Jahre über den Kommunismus in Lateinamerika.

Gerade der Anspruch, politische Biografien, die maßgeblich im Zeichen ideologischer Konflikte, der Repression und der Klandestinität gestanden haben, in möglichst großer Zahl zu dokumentieren, birgt natürlich die Gefahr, dass sich Fehler in die Darstellungen einschleichen. Es erstaunt jedoch mitunter, in welchen offenkundigen, von der Literatur gut erschlossenen Fällen das Referenzwerk inkorrekte Daten wiedergibt. Bloß zwei Beispiele aus dem mexikanischen Kontext seien hier angeführt: Im Eintrag zu Tina Modotti wird Edward Weston, immerhin einer der berühmtesten Fotografen des 20. Jahrhunderts, (in offensichtlicher Verwechslung mit Rose de l’Abrie Richey) als Maler und als Ehemann von Modotti bezeichnet, nach dessen Tod diese von den Vereinigten Staaten nach Mexiko gereist sei (S. 220) – die gebürtige Italienerin zog in Wahrheit bekanntlich an Westons Seite ins Nachbarland um und fand dort Eingang in die ihrerseits eng mit dem Partido Comunista Mexicano (PCM) verbundenen Künstlerzirkel; Rafael Carrillo Puerto, der als Führer des Partido Socialista del Sureste und Gouverneur in Yucatán den bedeutendsten Versuch einer sozialistischen Gesellschaftsumgestaltung im Nachgang zur Mexikanischen Revolution unternahm, wird in einer bemerkenswerten Invertierung der zum Verständnis des yukatekischen Sozialismus zentralen ethnischen Verhältnisse als „indígena maya“ etikettiert (S. 73). Zu beanstanden ist ferner, dass dort, wo das Handbuch explizit und zuweilen auch mit Zitaten auf Autor/innen der Literatur Bezug nimmt, jeglicher bibliografischer Nachweis fehlt.

Wer sich für Erzählungen der oft wechselvollen, mitunter dramatischen Lebensgeschichten von internationalen Berufsrevolutionären und lateinamerikanischen Kommunisten interessiert, wird vom „Diccionario biográfico“ sicher nicht zu einer Lektüre eingeladen. Die Kollektiv-Biografie ist indessen auch nur beschränkt geeignet, einen Überblick über Muster in den Lebensläufen der Angehörigen dieser transnationalen Gemeinschaft zu verschaffen, über Karrieren der Orthodoxie und der Linientreue, über das Scheitern nicht nur an den nationalen politischen Gegebenheiten, sondern auch an rigider Parteidisziplin und am Stalinismus, über die menschlichen und politischen Verluste kommunistischer Selbstzerfleischung. Die Art der Datenaufbereitung im Buch ist solchen Einsichten nicht förderlich, und das Werk selbst legt keine entsprechenden grundlegenden Analysen vor. Immerhin bieten die Autoren eingangs eine erste, allerdings sehr allgemein gehaltene Auswertung des Korpus in Bezug auf die Fragen nach den Lateinamerikanern in den sowjetischen Kaderschulen, nach den lateinamerikanischen Delegierten an den Komintern-Kongressen (die nichts Neues ergibt) und nach den (sehr wenigen) lateinamerikanischen Opfern der politischen Repression in der Sowjetunion (S. 15ff.). Zur Hand nehmen werden das Nachschlagewerk sicher diejenigen Historiker/innen, die sich mit der Geschichte des Kommunismus in Lateinamerika befassen. Zur gezielten Vervollständigung und kritischen Überprüfung biografischer Informationen über die Akteure dieser Geschichte in ihren ersten Jahrzehnten stellt das Handbuch zweifellos ein unerlässliches Hilfsmittel dar. Nicht zuletzt wird, wer sich als Forscher/in mit dem Themengebiet beschäftigt, die lange Liste zugeordneter Pseudonyme zu schätzen wissen.

Anmerkungen:
1 Das Werk erschien vier Jahre zuvor in einer russischen Version: Jeifets, Lazar S., Latinskaia Amerika v orbite kominterna. Opyt biograficheskogo slovara, Moskau 2000. Es entstand im Rahmen des umfassenderen, von den Instituten für Politische Wissenschaft und für Soziologie der Universität Hannover geleiteten und von der Volkswagenstiftung unterstützten deutsch-russischen „Biographischen Forschungsprojekts zur Geschichte der Kommunistischen Internationale“ (<http://www.ipw.uni-hannover.de/forschung/komintern/index.htm>). Dessen Ergebnisse werden, herausgegeben von Michael Buckmiller und Klaus Meschkat, als „Biographisches Handbuch der Kommunistischen Internationale“ (mit CD-ROM) voraussichtlich Ende 2006 oder Anfang 2007 im Akademie Verlag vorliegen.

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